Wahl im Web: Stuttgart

Gastbeitrag von Dr. Christoph Bieber:

Okay, streng genommen gehörte Mainz auch in die Überschrift, doch der anstehende Doppelwahlsonntag dürfte eindeutig von den Ereignissen in Baden-Württemberg dominiert werden. Dementsprechend wird die nächste Ausgabe der „interaktivsten Wahlsendung“ (O-Ton zdf.de) auch vis-a-vis des Stuttgarter Hauptbahnhofs aufgezeichnet. Mit von der Partie sind selbstverständlich wieder Kollege Thorsten „Wahlforscher“ Faas und Malte „politicus“ Krohn.

Hier nun die übliche sneak preview auf die voraussichtlichen Online-Themen und -Schwerpunkte der insgesamt achten Wahl im Web-Sendung:

Obwohl im Jahr 2010 Rheinland-Pfalz unter den Flächenländern bundesweit den größten Zuwachs an Internet-Nutzern verzeichnen konnte, ist der Online-Wahlkampf nicht mitgewachsen. Besonders skeptisch ist man bei wahl.de, und auch die Kollegen von politik-digital.de sind nicht wirklich angetan von den Online-Performances an Rhein und Mosel. Einige Worte zu verlieren sind wohl über die Versuche, eine digitale Negativkampagne zu führen – Impulse lieferten hier die diversen Affären (Stichwort: Rheinland-Filz). Das eigentlich interessante ist dabei, dass diese „Schmutzkampagnen“ über die Jugendorganisationen der Parteien ausgetragen werden. Die Junge Union thematisiert den Rechtsbruch der SPD, auch die JuLis mokieren sich über SPD-Filz, während die JuSos ihrerseits schwarze Schafe zählen.

Ach ja: eine „verborgene“ Story des Online-Wahlkampfs in Rheinland-Pfalz ist das Schickal des regionalen sozialen Netzwerks Wer kennt wen? – dort sind (lt. wahl.de, siehe oben) respektable 27.000 Freunde von Kurt Beck registriert, ein Vielfaches der „Gefällt mir“-Daumenrecker. Angesichts des derzeitigen Facebook-Booms sind die „nativen Netzwerke“ wie StudiVZ und eben Wer-kennt-wen einer massiven Konvertierungswelle ausgesetzt: Facebook ist der neue Platzhirsch und wer seine Grundkenntnisse in einem anderen Netzwerk erworben hat, setzt sie nun immer häufiger auch beim Marktführer ein. Es bleiben damit die Fragen, ob sich bei WKW nur noch „Netzwerk-Zombies“ tummeln und ob bzw. wie die Wahlkampf-Strategen diese Entwicklung beurteilt haben. Ein klarer Fall für Social-Media-Malte, mit dem ich mir wohl wieder einen Stehtisch teilen werde. Am besten Frage ich ihn einfach, mal sehen, ob er die Zeit für eine Antwort findet.

Ein länderübergreifendes Thema ist die, sagen wir mal: ambivalente Nutzung von Online-Videos im Wahlkampf. Ein kleiner YouTube-Klassiker stammt dabei von Friedhelm Ernst, der mit immerhin mehr als 30.000 Zugriffen eine ordentliche Marke setzt. Der Online-Ruhm des Apothekers aus Bruchsal ist allerdings ein zweifelhafter, denn er resultiert zu weiten Teilen aus dem Fremdschäm-Effekt – vielleicht lässt sich Ernst damit in die Serie aus heftigst kommentierten Video-Fouls einreihen, die derzeit von Rebecca Black und Zachary Freiman angeführt wird.

Einige Wahlkampf-Videos sind weniger aufgrund des Formates interessant, sondern weil dabei Techniken kreativer Bildbearbeitung zum Einsatz kommen, die Henry Jenkins schon lange unter dem Begriff des Photoshop for Democracy diskutiert. Hierfür gibt es zahlreiche Beispiele, auch zum noch vor wenigen Monaten wichtigsten Wahlkampfthema, der Bahnhofskontroverse um das Projekt Stuttgart21.

Hier findet sich auch eine Verbindung zu einem weiteren Thema, das für die Organisation von Online-Wahlkämpfen hätte relevant sein können (und dies vielleicht auch war). Die Rede ist von der Affäre um den ehemaligen Verteidigungsminister Karl Theodor zu Guttenberg. Die Leistungsfähigkeit von Transparenz-Plattformen, die sich mit der Enthüllung und Verbreitung von geheim bzw. zurück gehaltenen Informationen befassen hat seit den verschiedenen WikiLeaks-Affären Konjunktur. Der immense Erfolg des Guttenplag-Wiki dürfte als eine Art Warnsignal in den Wahlkampfzentralen angekommen sein – Politiker-Fehltritte werden in Zeichen sozialer Netzwerke in Windeseile dokumentiert und weiterverbreitet (sofern dies zuvor nicht doch über die etablierten Kanäle der alten Massenmedien geschieht, wie etwa im Fall Brüderle).

Ergänzung (26.3.): Natürlich gibt es auch in Baden-Württemberg Beispiele für Negativ-Kampagnen, allen voran vermutlich Die aktuelle Restlaufzeit von Stefan Mappus (ein kleiner Eingriff aus Berlin in den Wahlkampf im Ländle) oder auch die Facebook-Seite Tschüss Schwarz-Gelb, die als Verlängerung der Online-Widerstände gegen den Stuttgarter Tiefbahnhof zu verstehen ist. Hier sammelt sich auch reichlich Material, das man unter dem Label Photoshop for Democracy betrachten könnte.

Neben diesen Themen und Ansatzpunkten stehen natürlich auch wieder die Ereignisse im so genannten Echtzeitweb im Vordergrund: wie reagieren die Parteien auf die Prognosen und Hochrechnungen ab 18 Uhr? Was sagen Freunde, Fans und Follower zur Sitzverteilung in Mainz und den Koalitionsoptionen in Stuttgart? Und wie bewertet wohl dieser Herr Twitter den Wahlabend?

In diesem Sinne: bis zum Sonntag!

Dr. Christoph Bieber ist wissenschaftlicher Assistent an der JLU Gießen und beschäftigt sich mit den Auswirkungen der Neuen Medien auf politische und gesellschaftliche Prozesse. Zu seinen Veröffentlichungen zählen unter anderem Publikationen zum Thema Online-Wahlkampf, die Zukunft der Mediendemokratie und Interaktivität. Dr. Bieber betreibt das Blog Internet und Politik.

Duell am Rhein

von Christoph Bieber

Am kommenden Montag findet in Düsseldorf das “Das Duell” zwischen Ministerpräsident Jürgen Rüttgers (CDU) und der SPD-Spitzenkandidatin Hannelore Kraft statt. Veranstaltender Sender ist der WDR, die Debatte beginnt um 20.15 Uhr und dauert 60 Minuten – die Sprint-Variante wie bereits 2008 in Niedersachsen (Duell-Trivia: wer kann ohne digitale Hilfsmittel den Namen des damaligen SPD-Kandidaten aufsagen? Und welcher heutige Bundesminister ging damals im so genannten “kleinen Duell” an den Start?).

Die in der Kölner Vulkanhalle ausgetragene Diskussion wird moderiert von Jörg Schönenborn und Gabi Ludwig – warum nur stellt der WDR ein Duo an den Fragetisch? Gerade die schlechten Erfahrungen aus dem “Kanzlerduell” vom vergangenen Herbst sollte Abschreckung genug vor zu vielen Moderationsposten sein. Sicher ist, dass dadurch die ohnehin schon knapp bemessene Redezeit von Rüttgers und Kraft noch weiter reduziert wird. Es ist davon auszugehen, dass die Kandidaten von Thema zu Thema hetzen, dabei wenig Überraschendes von sich geben und die Moderation selbst dann noch störend wirkt, wenn sie nur lenkend eingreifen möchte.

Insgesamt kommt der vermeintliche Wahlkampfhöhepunkt jedoch eher unscheinbar daher – die mediale Orientierung auf ein zentrales Kampagnen-Ereignis lässt lange auf sich warten. Eine ordentliche “Debatte vor der Debatte” fand (bisher) nicht statt, wenn doch noch etwas folgt, dann wird es nur ein kleines Vorgeplänkel sein – und keine groß inszenierte Positionierung der Kandidaten als gute oder schlechte Rethoriker.

Dennoch wollen wir am kommenden Montag ein kleines Experiment durchführen – gemeinsam mit Thomas Pfeiffer (@codeispoetry) von webevangelisten.de habe ich einen kleinen Versuchsaufbau entwickelt, um möglichst viele Tweets mit debattenbezogenen Inhalten für eine unmittelbare Kommentierung sowie für eine wissenschaftliche Nachbearbeitung zu sichern. Das wichtigste Hashtag dafür dürfte #nrwduell sein, außerdem beachten wir natürlich die Namen der Teilnehmer, Parteikürzel sowie den zuständigen TV-Sender. Eine kleine Sammlung der wichtigsten Twitterthemen zur Landtagswahl ist ebenfalls in Vorbereitung.

Ein paar Fingerübungen im Umfeld der britischen Prime Minister Debates haben schon recht spannende Daten hervor gebracht, auch die zeitnahe Abbildung wesentlicher Themen und Trends scheint gut möglich. Am Montag sollen erste Ergebnisse unmittelbar nach der Debatte an der NRW School of Governance in Duisburg präsentiert werden, ebenfalls dort führt  Thorsten Faas (Uni Mannheim) eine Real-Time-Response-Messung durch. Es wird spannend sein zu beobachten, wie sich die Resultate des zweigleisigen Debatten-Monitoring ergänzen (oder auch nicht).

Das Duell am Rhein wird am Montag nicht annähernd die Dimension der britischen Debatten erreichen: während der Debattenpremiere am 15. April sammelte der Dienstleister Tweetminster insgesamt 184.396 Tweets von 36.483 Nutzern. Bei der zweiten Auflage am 22. April ging das 140-Zeichen-Aufkommen ein wenig zurück, gesichert wurden “nur” noch 142,795 Tweets (-41,601) von 28,790 Nutzern (-7,693). Diese Größenordnung führte auch zu erheblichen Reichweiten-Erfolgen der britischen Politik – während und kurz nach den Debatten erschienen die Namen der drei Teilnehmer sowie das allgemeine Hashtag #leadersdebate in den trending topics bei Twitter. Dort sind politische Themen eher selten zu Gast, europäische Ereignisse erst recht.

Auch wenn das Aufeinandertreffen von Rüttgers und Kraft bei weitem nicht die mediale Prominenz erreicht wie die Debattenserie vor den Unterhauswahlen, so wird sich auch hier der Trend zur Echtzeit-Begleitung eines wichtigen Wahlkampf-Ereignisses im Internet fortsetzen.

Dieser Beitrag erschien zuerst im Blog des Autors.

Bilder: flickr tgoldkamp und nrwspd

Schirrmacher und das Netzwerkbarometer

von Christoph Bieber

„Wer braucht im Wahlkampf eigentlich Freunde?“ lautete die Frage vor gut einem Jahr, als das Netzwerkbarometer erstmals an den Start ging – Anlass war damals die Landtagswahl in Hessen, der nicht unspektakuläre Start in das Superwahljahr 2009. Damals begab sich der Homo Politicus auf noch unvermessenes Gelände und setzte ein erstes Signal in Richtung innovativer Wahlkampfberichterstattung im Web 2.0.

Im Laufe des Jahres wurde es auf diesem Feld noch richtig eng, vor allem zahlreiche Agenturen nutzten die politische Aktivität im „Social Web“ als Bühne zum Schaulaufen für potenzielle Auftraggeber. Angebote wie wahl.de (compuccino), wahlradar.de (linkfluence/Publicis), politReport.de (cognita AG) oder der Wahl-imWeb-Monitor (Weber Shandwick) fügten der eher konventionellen Berichterstattung über den Online-Wahlkampf durch die üblichen Verdächtigen eine neue Facette hinzu: die automatisierte Erfassung der Politiker-Aktivität auf den Plattformen des Web 2.0. Solche „Aggregatoren“ sorgten damit erstmals für eine großflächige Abbildung der politischen Nutzung von Facebook, Twitter & Co. Weil die Abfragen (Frank Schirrmacher würde sagen: die Algorithmen) nicht allein auf die Beiträge der Politiker abgestimmt bleiben mussten, lenkten die verschiedenen Darstellungen häufig auch die Blicke auf bislang unbekannte Ausschnitte der politischen Online-Öffentlichkeit: wer vernetzt sich mit wem, wer teilt welche Informationen auf welcher Plattform, wer antwortet auf welchen Kommunikations-Anreiz innerhalb der eigenen Partei oder beim politischen Gegner?

Wenn nun das Netzwerkbarometer in seine zweite Auflage startet, orientiert es sich aber weniger an den Agentur-Algorithmen, sondern den eigenen Erfahrungen aus dem Vorjahr: der Ansatz auf Homo Politicus ist nämlich kein automatisierter, sondern setzt stets die eigenhändige Systematisierung, Kontrolle und Interpretation der Daten voraus. Genau das war im vergangenen Jahr die große Schwäche der aufwändig produzierten Aggretatoren: angesichts der Datenflut kapitulierten die Anbieter nicht selten vor tiefer schürfenden Analysen – auf eine ertragreiche Untersuchung zur Social Media-Nutzung im Online-Wahlkampf des Jahres 2009 müssen wir daher noch warten. Informationsüberlastung im Schirrmacher-Sinn scheint hier tatsächlich einmal das richtige Stichwort.

Womit wird sich nun das Netzwerk-Barometers in den nächsten Wochen und Monaten beschäftigen? Zunächst einmal ist es spannend zu beobachten, inwiefern die Landespolitiker Opfer des deutschen „Offline-Herbstes“ geworden sind. Haben die (wenigen) einen Vorteil, die auf die kontinuierliche Kommunikation mit ihren Fans, Freunden und Followern gesetzt haben? Oder können Versäumnisse aus den vergangenen Monaten rasch aufgeholt werden? Wirkt auch in 2010 noch so etwas wie der „Obama-Effekt“ oder besinnt man sich auf Landesebene eher auf „campaigning as usual“ (Wesselmänner, Handzettel, Tapeziertische)? Gibt es auch im Landtagswahlkampf wieder spektakuläre Ausrutscher, die umgehend im Internet dokumentiert werden und sich dort in Echtzeit verbreiten? Setzen erneut die Piraten die Maßstäbe im Social Web? Und schließlich: ist (oder: bleibt) das Netz eine abgeschottete Plattform für „Nerds“ oder zeigen sich „spill-over“-Effekte in Richtung der alten Medien?

Die Daten aus dem Netzwerkbarometer werden diese und andere Fragen sicher nicht vollständig beantworten können, aber sie tragen mit Sicherheit zum besseren Verständnis moderner politischer Kommunikation bei. Und das ist gut so.

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Dr. Christoph Bieber ist wissenschaftlicher Assistent an der JLU Gießen und beschäftigt sich mit den Auswirkungen der Neuen Medien auf politische und gesellschaftliche Prozesse. Zu seinen Veröffentlichungen zählen unter anderem Publikationen zum Thema Online-Wahlkampf, die Zukunft der Mediendemokratie und Interaktivität. Dr. Bieber betreibt das Blog Internet und Politik.

Das Jahr in 140 Zeichen

Der Impuls kam – wie so oft – aus den USA: das Online-Magazin Politico.com bemerkte die Twitterisierung der Politik und kürte die 10 wichtigsten Tweets des Jahres.

Auch wenn Twitter im allgemeinen (und das politische Twittern im besonderen) hierzulande noch immer belächelt wird, so lässt sich eine solche Liste durchaus auch für Deutschland anlegen. Nach spontaner Nachfrage in gut twitternden Kreisen hier also eine kleine Liste der politischen Tweets des Jahres 2009.

(Achtung: es handelt sich hier „nur“ um eine chronologisch geführte Liste, kein wertendes Ranking!)

1. Zum Jahresauftakt zieht Thorsten Schäfer-Gümbel auf Twitter relativ alleine seine Bahnen, meldet sich zu allen Tages- und Nachtzeiten und kommentiert regelmäßig das Geschehen auf landes- wie bundespolitischer Ebene. Inzwischen scheint er auch perfekt für (auto)mobiles Twittern ausgerüstet zu sein.

Überhaupt scheint Hessen eine heimliche Twitter-Hochburg zu sein (siehe auch #9) – der neue Parlamentarische Staatssekretär im Wissenschaftsministerium, Helge Braun (Gießen), glänzt etwa mit diesem Hochqualitätstweet (Danke, @dr_meyer!).

2. Julia Klöckner und Ulrich Kelber verraten das Ergebnis der Bundespräsidentenwahl.

Der Tweet „Leute, Ihr könnt in Ruhe Fußball gucke. Wahlgang hat geklappt.“ von @JuliaKloeckner scheint inzwischen gelöscht. Eine „Vorsichtsmaßnahme“ mit Blick auf die Landtagswahl 2011 in Rheinland-Pfalz, bei der die „Twitter-Sünderin“ (BILD) gegen Kurt Beck antreten wird?)

3. @mitzeichner zählt 50.000 Unterschriften für die Petition gegen Internetsperren – nach nicht einmal 70 Stunden Laufzeit.

Die Dynamik der Kampagne wirkt sich im Jahresverlauf maßgeblich auf die Entwicklung der Piratenpartei aus – deren Mitgliederzuwachs beginnt schlagartig mit dem Ablauf der Petition und der Bundestagsabstimmung zum Zugangserschwerungsgesetz im Juni.

4. Der langjährige SPD-Abgeordnete Jörg Tauss erklärt seinen Parteiaustritt und wechselt zur Piratenpartei.

Mit dem spektakulären Wechsel generierte Tauss einen massiven Follower-Zuwachs und katapultierte sich an die Spitze der politischen Twitter-Charts in Deutschland.

5. Patrick Rudolf (alias @pr_radebeul) plaudert die hochgeheimen Exitpolls für die Landtagswahlen in Sachsen, Saarland und Thüringen aus.

Der Stadtverordnete aus Radebeul versetzt damit Meinungsforscher, Medien und den Bundeswahlleiter in helle Aufregung.

6. Die erste Sitzung des 16. Bundestages wird zur Twitterparty – Sören Bartol, Volker Beck und Halina Wawricek feiern mit (vgl. auch die schöne Zusammenstellung drüben bei Homo Politicus).

7. @muentefering tritt zurück (Franz Müntefering aber noch nicht).

Der zugehörige Bericht der Agentur Metronaut („Wir waren Franz Müntefering“) erklärt vieles über das Führen eines Fake-Accouts und beinahe noch mehr über die Twitter-Kompetenz deutscher Journalisten.

8. Im Spätherbst beginnen die Hörsäle zu twittern – in München, Berlin, Marburg und anderswo informieren Twitter-Accounts über die aktuellen Ereignisse im Hochschulstreik.

Die Hashtags #unibrennt und #unsereuni dominieren die Rankings und sorgen für eine Vernetzung und Verbreitung der Studierendenproteste.

9. Kristina Köhler twittert als Bundesministerin weiter (und gibt auch das Briefeschreiben nicht auf).

Auch ohne ihre überraschende Berufung ins Familienministerium wäre @kristinakoehler im Jahresrückblick aufgetaucht – sie nutzte im Rahmen ihrer Bundestagskampagne nicht nur Twitter, sondern auch andere soziale Netzwerke massiv. Und setzte sich in ihrem Wahlkreis immerhin gegen die bisherige Entwicklungshilfeministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul durch.

10. Der niedersächsische Landtagsabgeordnete Helge Limburg stellt auf seine Weise Öffentlichkeit her (das ist der persönliche „Politeiatweet“ des Jahres von @codeispoetry – danke sehr!).

Zugleich erhält damit die Debatte um die „Rechtmäßigkeit“ des Twittern aus Plenarsitzungen neuen Schwung – in Augsburg ist bereits ein Twitter-Verbot für Sitzungen des Stadtrates in Kraft.

Der kleine Jahresrückblick auf die 140-Zeichen-Ereignisse zeigt, dass das umstrittene Phänomen Twitter zumindest in der deutschen Politik angekommen ist – von anderen Gesellschaftsbereichen lässt sich das nur bedingt behaupten. Die bisweilen arrogant und hämisch geführte öffentliche Debatte über Sinn bzw. Unsinn des Kürzestformates wird sicherlich auch im nächsten Jahr geführt werden.

Die US-Kollegen von Politico.com gehen von einer „Domestizierung“ und „Verharmlosung“ der Twitter-Kommunikation durch politische Akteure aus.

Danach sieht es in Deutschland eher nicht aus.

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Dieser Artikel erschien zuerst bei Internet und Politik.

Dr. Christoph Bieber ist wissenschaftlicher Assistent an der JLU Gießen und beschäftigt sich mit den Auswirkungen der Neuen Medien auf politische und gesellschaftliche Prozesse. Zu seinen Veröffentlichungen zählen unter anderem Publikationen zum Thema Online-Wahlkampf, die Zukunft der Mediendemokratie und Interaktivität. Dr. Bieber betreibt das Blog Internet und Politik.

wir 2.0

Studierendenproteste sind auch nicht mehr das, was sie mal waren – ein zentrales Ziel, die Erreichung maximaler Medienaufmerksamkeit, ist nun schon vom Start weg realisiert: als am Mittwoch die Universität Heidelberg als erste eine Hörsaalbesetzung vermeldete und die Standorte Münster und Potsdam rasch nachzogen, da war die Informationsinfrastruktur schon fertig. Der Gießener Kollege @dr_meyer vermeldete bereits am Vormittag:

meyer

#bildungstreik2009.de: die social-media-infrastruktur steht: twitter-liste (http://bit.ly/3rP7ux), facebook-profil &youtube-kanal

Das Vorbild für die Nutzung der diversen Plattformen des „Social Web“ kam aus Österreich – mit den Hashtags #unibrennt und #unsereuni hatten sich bei der Besetzung des Wiener Audimax am 22. Oktober zwei „Informationsanker“ gebildet, die einen schnellen Zugriff auf die studentische Protestkommunikation ermöglichten. In rascher Folge kamen neue Informationsquellen hinzu, der zentrale Hörsaal der Wiener Universität reihte sich unter @audimax in die „Dinge, die twittern“ ein, und auch eine Facebook-Gruppe wurde eingerichtet. Erst etwas später ging die Website zum Protest online, entstanden ist dort ein veritables Web 2.0-Portal, inzwischen auch mit grenzüberschreitenden Nachrichten. Eine umfassende Chronik der Ereignisse findet sich hier, die kenntnisreichsten Darstellungen zur Nutzung des Internet im Protestprozess lieferten Weblogs-Beiträge wie die von Jana Herwig (@digiom), Helge Fahrnberger (@muesli), Philipp Sonderegger (@phs), Niko Alm (@NikoAlm).

Trotz der geballten Ladung Protestberichterstattung dauerte es sehr lange, bis sich die deutschen (Offline-)Medien etwas ausführlicher mit der Situation in Österreich befasst haben. Bezeichnender Weise weckten vor allem die zahlreichen Live-Streams aus den Hörsälen das Interesse der Beobachter – die manchmal etwas holprigen Videoübertragungen der täglichen Versammlungen, Diskussionen und Aktionen spiegeln die neuen Produktionsverhältnisse wider: das Internet als „Medienimperium in der Westentasche“ – weitere Unterstützung für These zwei des Internet-Manifest.

Man muss nun abwarten, was diese Veränderung beim Kampf um Öffentlichkeit im Bildungsdiskurs bewirkt – in Österreich trägt die Vernetzung im „Echtzeit-Internet“ zunächst einmal zur Synchronisierung der Proteste an den verschiedenen Standorten sowie der Identitätsstiftung und -erhaltung bei – „Wir 2.0“. Auch in inhaltlicher Perspektive können die Techniken zur netzbasierten Zusammenarbeit wichtige Dienste leisten, wie die Hauptseite des österreichischen Protests-Wikis zeigt. Bisher steht jedoch die inhaltlich-konstruktive Protestarbeit noch hinter den organisatorischen und kommunikativen Aktivitäten zurück.

Wie geht es nun weiter?

unikarte

Das ist zum aktuellen Zeitpunkt noch völlig unklar – breiten sich die Proteste auch in Deutschland in nennenswerter Zahl aus (eine Karte hierzu liefert @schaffertom), werden davon sicher auch die österreichischen Aktivisten profitieren. Zwar bildet die Kritik am Bologna-Prozess einen gemeinsamen Ansatzpunkt, doch stellen sich die Berührungsflächen für eine Kommunikation mit der Politik völlig anders dar. In Österreich steht der zuständige Minister Hahn auf dem Sprung nach Brüssel, in Deutschland steht die von der Koalition ausgerufene „Bildungsrepublik Deutschland“ gleich vor einer ersten Bewährungsprobe. Von der Piratenpartei wird man vermutlich in beiden Ländern etwas hören – während in Österreich die Partei bislang einen schweren Stand hatte, scheint man dort nun den Protest als Anschub für einen neuen Versuch zum „Entern des Parteiensystems“ nutzen zu wollen. Die deutsche Piratenpartei muss zwar noch den Mobilisierungs-Erfolg der Bundestagswahl verarbeiten und ihre Strukturen modernisieren, doch einer frisch aufflammenden Debatte um die Qualität des Hochschulstandortes Deutschland können sie sich keinesfalls verschließen – bildungspolitische Fragen in der Informationsgesellschaft stehen ganz oben auf der Agenda zur Erweiterung des Themenspektrums.

Dr. Christoph Bieber ist wissenschaftlicher Assistent an der JLU Gießen und beschäftigt sich mit den Auswirkungen der Neuen Medien auf politische und gesellschaftliche Prozesse. Zu seinen Veröffentlichungen zählen unter anderem Publikationen zum Thema Online-Wahlkampf, die Zukunft der Mediendemokratie und Interaktivität. Dr. Bieber betreibt das Blog Internet und Politik.

Screenshots: twitter, zurpolitik