Das System der Landtagswahl 2010 in NRW

von Martin Fehndrich

Sichtbarste Neuerung – das Zweistimmensystem

Völlig ungewohnt dürfte die für Nordrhein-Westfalen sichtbarste Neuerung für keinen sein. Denn das neue Zweitstimmensystem ist von der Bundestagswahl her bekannt. In NRW gab es bisher nur eine Stimme, die sowohl für die Partei, als auch für den Wahlkreiskandidaten der Partei zählte. Nun gibt es wie bei Bundestagswahlen und den meisten anderen Landtagswahlen eine Erststimme für einen Kandidaten im Wahlkreis und eine Zweitstimme für die Landesliste einer Partei. Für die Wähler wird diese Änderung keine große Auswirkung haben.

Größere Änderungen bedeutet dies aber für die wahlwerbenden Parteien. Eine Partei, die in einem der 128 Wahlkreise Stimmen bekommen wollte, musste bisher in diesem Wahlkreis auch einen Kandidaten aufstellen. Und für kleine und neue Parteien bedeutete dies 100 Unterschriften in jedem dieser Wahlkreise zu sammeln und amtlich bestätigen zu lassen.

Einer Partei, der dies nur in wenigen Wahlkreisen gelang (wie z.B. der Partei DIE PARTEI in Krefeld), war es faktisch unmöglich über 5% der Stimmen zu kommen, denn die Sperrklausel bezog sich auf die Stimmen aller Wahlkreise, nicht nur der in denen man kandidiert. Mit dem Zweitstimmensystem ist dieses Kandidaturerfordernis entfallen. Eine Partei hat keinen wahlrechtlichen Vorteil mehr, wenn sie in den Wahlkreisen Kandidaten aufstellt.

Es kann sogar für eine Partei von Nachteil sein, wenn viele Kandidaten in den Wahlkreisen aufgestellt und dort gewählt werden. Der Vorteil eines Sieges im Wahlkreis liegt nur bei dem Kandidaten, nicht bei der Partei. Denn für jeden erfolgreichen Wahlkreis-Kandidaten zieht einer weniger per Listenmandat in den Landtag. An der Zahl der Sitze einer Partei ändert sich nichts. Und auch im Fall von Überhangmandaten werden diese – anders als diesmal noch bei der Bundestagswahl – ausgeglichen. Das Verhältnis der Stärke der Parteien wird allein von der Zweitstimmenzahl bestimmt.

Die Wahlkreiskönige können gegenüber ihrer Partei dagegen selbstbewusster auftreten. Verdanken sie ihr Landtagsmandat nicht der Landespartei, sondern Parteifreunden und Wählern vor Ort. Auch ist Stimmensplitting ohne Wahlkreiskandidaten nur noch in die für die Partei „richtige“ Richtung möglich. Die Zweitstimme geht an die Partei, die Erststimme an einen Kandidaten einer anderen Partei.

Im Ergebnis wird sich durch das Zweistimmenwahlsystem vermutlich wenig ändern. Wenn man die Bundestagswahl oder andere Landtagswahlen als Maßstab nimmt, wird nur ein verschwindender Anteil der Sitze anders besetzt.

Überhang und Ausgleichsmandate

Ein Ergebnis der Landtagswahl 2010 wird eine Vergrößerung des Parlaments sein, denn die Zahl der Überhangmandate und Ausgleichsmandate wird steigen. 128 der „normal“ 181 Sitze im Landtag gehen an Wahlkreiskandidaten der Parteien. Der Wahlkreissitzanteil ist mit über 70% so hoch wie in keinem anderen Bundesland. Solange sich nicht zwei gleichstarke große Parteien die Wahlkreise teilen, oder eine Partei an 70% herankommt, entstehen daher praktisch immer Überhangmandate. Die anderen Parteien erhalten dann –  im Gegensatz zum Bundestagswahlsystem  – Ausgleichsmandate. Der Proporz soll wieder hergestellt werden.

Die Zahl dieser Zusatzmandate kann durchaus beträchtlich sein. Verstärkt wird dies dadurch, dass die großen Parteien immer weniger Stimmen erhalten und die größte, aber nach bisherigen Maßstäben nicht unbedingt mehr große Partei, einen Großteil der Wahlkreise gewinnen wird. Bei der Bundestagswahl 2009 erhielten in NRW SPD und CDU zusammen weniger als 70% der Zweitstimmen. Bei der Landtagswahl wären bei so einem Ergebnis Überhangmandate unvermeidlich.

Es erscheint nicht einmal als unrealistisch, dass die größte Partei mit einem Drittel der Stimmen 100 Wahlkreise gewinnt und der Landtag statt 181 fast 300 Abgeordnete umfassen könnte. Das neue Zweistimmenwahlrecht begünstigt dies dann, wenn beispielsweise viele FDP Anhänger mit ihrer Erststimme den CDU-Kandidaten unterstützen, während die Anhänger der Linken und Grünen nur in geringem Umfang Wahlkreiskandidaten der SPD unterstützen. Bei der Bundestagswahl 2009 profitierte allerdings die SPD etwas mehr vom Stimmensplitting als die CDU, was bei der Landtagswahl die Zahl der Überhangmandate etwas reduzieren würde.

Dass es enger im Parlament wird, trifft aber nicht nur den NRW Landtag, sondern praktisch alle Gremien, die per sogenannter „Personalisierter Verhältniswahl“ besetzt werden. Hier werden sich die Gesetzgeber Gedanken machen müssen, wie man Personalisierung und Verhältniswahl besser kombinieren kann. Proporz, hälftiger (oder wie in NRW sogar 70%-tiger) Wahlkreissitzanteil und Einerwahlkreise sind eben nur in Sonderfällen und aber nicht unter den derzeitigen Bedingungen eines Fünfparteiensystems gleichzeitig möglich.

Wechsel des Sitzzuteilungsverfahren von Hare/Niemeyer zu Sainte-Laguë

Praktisch bedeutungslos für den Wähler ist der Wechsel des Berechnungsverfahrens vom Quotenverfahren mit Rundung nach größten Resten (Hare/Niemeyer) zum Divisorverfahren mit Standardrundung (Sainte-Laguë). Dieser Wechsel, der auch schon bei vielen Landtagswahlsystemen und auch beim Bundestagswahlsystem vollzogen wurde, beseitigt ein paar mögliche Paradoxien bei der Sitzzuteilung, führt aber in den meisten Fällen zur selben Sitzverteilung. Auch gibt es hier (im Gegensatz zum Divisorverfahren mit Abrundung, D’Hondt) keinen systematischen Vorteil für die großen (oder kleinen) Parteien.

Für die Freunde der Primärliteratur stellen Landeswahlgesetz und Landeswahlordnung eine bittere Kost dar. Der Landtag und das Innenministerium haben sich dort für grotesk umständliche Beschreibungen entschieden, die eine Lektüre nicht nur unnötig erschweren, sondern auch zu einer Reihe von Unklarheiten und Regelungslücken führen. So kann es durchaus vorkommen, dass die Formel zu Berechnung der Ausgleichsmandate zu viele, zu wenige oder keine Ausgleichsmandate verteilt.

Nur in NRW – Ministerpräsident muss Landtag angehören

Eine verfassungsrechtliche Besonderheit in Nordrhein-Westfalen ist, dass der Ministerpräsident dem Landtag angehören muss.

Für die großen Parteien bedeutet dies, dass der Kandidat für das Amt des Ministerpräsidenten in einem sicheren Wahlkreis kandidieren sollte. Gewinnt er seinen Wahlkreis nicht, fällt mit großer Wahrscheinlichkeit kein Listensitz für ihn an und man wäre gezwungen einen erfolgreichen Wahlkreiskandidaten zum Verzicht auf seinen Sitz zu bewegen, damit der designierte Ministerpräsident nachrücken kann.

Interessant wird diese Frage dann, wenn in der laufenden Legislaturperiode (z.B. durch Rücktritt) ein neuer Ministerpräsident, oder bei unklaren Mehrheiten ein Kompromisskandidat gesucht wird. Der Kandidatenpool kann dann plötzlich sehr klein sein.

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Martin Fehndrich ist Gründer von Wahlrecht.de (Twitter: @wahlrecht_de). Dabei handelt es sich um ein unabhängiges, überparteiliches und nicht-kommerzielles Internet-Angebot rund um die Themen Wahlen, Wahlrecht, Wahlverfahren und Wahlprognosen. Genauere Informationen über die Wahlsysteme der anderen deutschen Bundesländer sind unter http://www.wahlrecht.de/landtage/index.htm zu finden.

Bildquelle: Screenshot landtag.nrw.de