Liberale und Integration

Zwei Zitate, die ich nur kurz gegenüber stellen möchte. Zuerst der hessische Integrationsminister Jörg-Uwe Hahn (FDP) in der heutigen aktuellen Stunde des hessischen Landtags zum Schweizer Volksentscheid über Minarette:

Wir alle sind klug beraten, wenn wir uns mit dem Ergebnis ernsthaft und ergebnisoffen auseinandersetzen, wenn wir erfahren und erkennen, dass die Schweizer Bevölkerung ganz offensichtlich entsprechende Ängste artikuliert hat und ich glaube wir sind klug beraten, wenn wir daraus – sowohl in der Art der der Auseinandersetzung als auch in der praktischen Arbeit – politische Konsequenzen ziehen.

Ich glaube wir sind gut beraten, uns des Ergebnisses dieser Entscheidung etwas intensiver und vorurteilsfreier zu widmen. Ist es klug, von einem schändlichen Ergebnis zu sprechen? Ich glaube, es ist nicht klug. Es zeit nämlich, dass man da nicht ergebnisoffen herangeht, sondern wieder mit den selben Scheuklappen, die mit Ursache dafür sind, dass es so viel Ängste in der Gesellschaft gibt. Wir lösen doch nicht Angst damit, dass wir deren Ursachen tabuisieren, oder es als schändlich beschreiben.

Diesen Äußerungen nachstellen möchte ich einen Kommentar von Malte Lehming im Tagesspiegel unter dem Titel Bist du liberal? Oder in der FDP? Freiheiten und Grundrechte haben immer weniger Fürsprecher.

Es folgt die Religionsfreiheit. Auch sie ist ein Menschenrecht, muss als solches vom Staat garantiert werden und hat Vorrang selbst vor demokratisch herbeigeführten Entscheidungen. Wie kommt es dann, dass der deutsche Außenminister, angeblich ein Liberaler, nach dem Schweizer Minarettbauverbotsreferendum nicht etwa dieses bedauerte, sondern meinte, die Schweizer in Schutz nehmen zu müssen? Und warum hören wir nichts von FDPlern, wenn zum Beispiel christliche Missionarinnen im Jemen ermordet werden? Da kneifen sie. Und so wirkt es wie Hohn, dass sie jetzt gar einen eigenen Menschenrechtsbeauftragten stellen wollen.

Bild: Screenshot hr-online

Medienzukunft auf Abruf

„Das Internet wird das Fernsehen ablösen, wenn auch nicht in den nächsten drei bis vier Jahren“ sagte Markus Kavka am Montag auf einer Soirée der NRW School of Governance. Eine steile These eines Mannes, der mit dem Fernsehen berühmt und inzwischen zum Grenzgänger der Medienwelten geworden ist. Für MySpace moderiert er im Netz, das ZDF lässt sich von ihm das Internet in die Mattscheibe tragen.

Auch die Zukunft der Zeitungen sieht Kavka nicht im alten Format: „In zehn Jahren wird es keine gedruckten Tageszeitungen mehr geben.“ Man muss sich nur die Diskussionen der vergangenen Wochen ansehen, um ihn nicht mehr als Solisten zu sehen. Der Internet-Chor besingt gemeinsam das noch nicht einmal vorgestellte iTablet von Apple. Auf Carta schreibt Wolfgang Michal: „Das iTablet könnte das definitive Ende des Gutenberg-Zeitalters bedeuten.“ Ulrike Langer verweist in ihren Medienlinks auf den österreichischen Journalisten Georg Holzer, der im kommenden Jahr ein ehrgeiziges Projekt starten will, das eindeutig inspiriert ist von der Vision des Internettabletts als neuem Medienträger. Eine „Tageszeitung für die digitale Wissensgesellschaft“ will er herausgeben und damit das „Beste aus digitaler und analoger Welt“ vereinen.

Internet die bessere Zeitung?

In der Tat bietet ein multimediales Tablett spannende Perspektiven für das Format Zeitung. Aktueller wäre man allemal, denn die Nachrichten auf dem morgendlichen Weg zur Arbeit wären nicht die Nachrichten vom Vorabend, sondern kämen frisch aus den Redaktionen. Dazu könnte man gleich die schon entstanden Diskussion der anderen Zeitungsleser verfolgen, die sich unaufdringlich aber einfach zu erreichen am rechten Rand des breiten Bildschirms aufreiht. Über Verweise und Links könnte man Hintergrundinformationen zum Artikel bekommen oder sich die ursprünglichen Quellen ansehen. Der Blick zum weiteren Angebot des Anbieters wäre ohnehin nur einen Fingerdruck entfernt.

Irgendwie kommt man nicht um den Gedanken herum, dass die Möglichkeiten des Internettabletts gar nichts so neues sein können. Links und Diskussionen gibt es schon auf jeder besseren Zeitungsseite im Netz, auf Blogs gehören sie schlicht zum guten Ton. Und auch das in der Vorführung von SportsIllustrated so faszinierend umgesetzte multimediale Erlebnis mit Videos und Statistiken, erklärenden Grafiken und Illustrationen, ließe sich bereits heute im Internet umsetzen. Doch verwirklicht wird es kaum.

Sind Tablet-PCs die Zukunft?

Einen großen, fast unschätzbaren Vorteil böte das Tablett jedoch in der Zugänglichkeit von Informationen. Es könnte gewissermaßen die Informationsfülle des Internets mit optischen Anleihen bei den bekannten gedruckten Magazinen aufbereiten und durch Multimedia aufwerten. Nicht zu vergessen die hardwareseitigen Gewinne des extrem handlichen und leichten iTablets. Mit 10 Zoll soll es fast so breit sein wie ein DIN A4 großer Briefbogen. Doch ob das wirklich reicht für eine massenhafte Verbreitung? Immerhin hat eine herkömmliche Zeitung keinen Akku, der womöglich nach 4-5 Stunden intensiver Nutzung aufgibt. Eine Zeitung kann man zusammenfalten und in die Aktentasche oder in den Mantel stecken, sie kann herunter fallen und nicht zerbrechen. Man kann auf dem Frühstückstisch Marmelade und in der Garage Motoröl darauf verteilen, ohne ein kleines Vermögen zu verlieren.

appletv

Etwas einfacher scheint da der Weg für eine Ablösung des ausgestrahlten Fernsehens zu sein. Schon heute gibt es Geräte wie das Apple TV, über das man Filme und Musik herunterladen und genießen kann. Auch hochgerüstete Spielekonsolen bieten Zugänge zu Filmportalen im Netz an und sind nicht weit vom neuen Herzstück des heimischen Fernseherlebnis entfernt. Denn bei diesen Geräten wurde einfache Bedienung (und funktionierende Bezahlmodelle) in eine Technikumgebung eingepasst, die sich problemlos mit dem digitalen Zuhause versteht.

Um aber das Fernsehprogramm über Satellit, Kabel und Antenne wirklich ablösen zu können, fehlt noch ein wenig Anpassung an die alltäglichen Sehgewohnheiten. Es fehlt eine plattformübergreifende Lösung für Live-Sendungen wie das omnipräsente Wetten dass..? oder das sonntagabendliche kollektive Tatort-Erlebnis. Auch die im Fernsehen oft so primitiv gelöste Interaktivität über Anrufe beim Sender ist noch nicht ausreichend im Netz abgebildet.

Was bietet das Internet fürs Fernsehen?

Völlig fehlen aber die eigentlichen, netzspezifischen Vorteile einer kreativen Multimediaplattform für das Wohnzimmer. Während das neue heute-Studio des ZDF schon mit beeindruckenden bis beängstigenden Animationen wirbt, lässt sich in keiner Nachrichtensendung von Hand Zusatzmaterial auswählen oder bestimmte Abschnitte überspringen.

Wer vermag zu sagen, wie lange gewisse Entwicklungen noch auf sich warten lassen. Während beim TV nur noch ein wenig Programmierarbeit zu fehlen scheint, ist es doch gerade die einheitliche oder verbindende Plattform, die eine große Hürde darstellt. Im Zeitungsbereich brechen gerade Neuentwicklungen auf, die große Revolution einzuläuten. Doch auch hier wird noch viel Arbeit nötig sein.

Man kann den Medienhäusern nur mit auf den Weg geben, den Weg ins Internet auch im Einklang mit den Interessen der Leser und Zuschauer zu beschreiten. SportsIllustrated beispielsweise baut in ihrem Demonstrationsfilm eine Funktion ein, mit der man als Leser beliebige Inhalte an seine Freunde und Bekannte in sozialen Netzwerken wie Facebook weitergeben kann. Georg Holzer möchte ebenfalls seine Inhalte von den Lesern weitergegeben sehen und verzichtet daher auf ein Rechtemanagement mit DRM.

Holzer kalkuliert übrigens dennoch mit einem einträglichen Geschäftsmodell, denn soziale Verknüpfungen und Bezahlmodelle müssen sich nicht ausschließen – weder bei der Zeitung noch beim Fernsehen der Zukunft.

Medienzukunft auf Abruf

Hat Markus Kavka also recht? Klar ist, dass das Internet mit einiger Entwicklungsarbeit durchaus das heimische TV-Gerät ebenso ersetzen kann wie die alltägliche Zeitungslektüre. Doch es ist ebenso klar, dass die Leser und Zuschauer nur ungern ihre Gewohnheiten verändern werden, wenn sie viele Nachteile davontragen. Erst wenn die Veränderung wenig Nachteile aber umso mehr Vorteile mit sich bringt, wird diese Medienrevolution stattfinden. Es scheint, als läge Kavka mit seinen 10 Jahren dabei gar nicht so schlecht.

Bilder: Screenshots Apple, YouTube

Kultusminister-Konferenz als Leuchtturm

In Wien diskutiert man mittlerweile über ein selbstgewähltes Ende der Besetzung, in Gießen vor unserer Haustür wurden fast alle besetzten Gebäude wieder für den Seminarbetrieb geöffnet. Wir stellen dazu Fragen an Dr. Christoph Bieber von der Uni Gießen: Ist nun das Ende der Bildungsstreiks gekommen?

Dr. Bieber: Das hängt vermutlich stark vom Standort ab – dass man in Wien nun gezielt über ein „aktives“, bzw. selbst bestimmtes Ende diskutiert, ist nur logisch, schließlich dauert die Besetzung dort nun ja auch schon fünfzig Tage und man wandelt dort täglich am Rande des Abbruchs durch externe Eingriffe. Auch Gießen hat nun bereits drei Streikwochen hinter sich, aber es gibt immer noch Universitäten, an denen die Aktionen noch relativ „frisch“ sind. Und: an manchen Orten bieten sich unmittelbare Ansatzpunkte, die den Protest zusätzlich anheizen können wie zuletzt die Rektorenkonferenz in Leipzig.

giessenerklaertsich

Fast jede deutsche Hochschule war besetzt oder wurde Schauplatz von Demonstrationen. Ist aber der Protest nicht immer noch gewissermaßen intern und nicht öffentlich sichtbar? Wie öffentlichkeitswirksam war bzw. ist der Bildungsstreik wirklich?

Dr. Bieber: Auch hier gilt: der Protest war je nach Streikort unterschiedlich gut sichtbar. Selbst wenn der besetzte Campus – wie zum Beispiel in Gießen – eher stadtauswärts liegt, so machten Demonstrationszüge durch die Innenstadt oder zentrale Aktionen vor dem Uni-Hauptgebäude die Stimmung sichtbar. In den alten Medien war der Bildungsstreik ebenfalls gut präsentiert: es gab zahlreiche Aufmacher, Reportagen oder Kommentare in den Printmedien und auch einige TV-Sendungen zum Thema wurden produziert, medial am prominentesten verhandelt wurden die Proteste wohl im Sonntagstalk bei Anne Will. Dass die neuen Medien einen erheblichen Teil zur Sichtbarkeit beigetragen haben – darüber müssen wir hier im Blog wohl nicht weiter reden.

kmknachsitzende

Am 10. Dezember tagt in Bonn die Kultusministerkonferenz. Studierende und Schüler aus ganz Deutschland haben eine Blockade der Sitzung angekündigt und wollen so die Minister zum „Nachsitzen“ verdonnern. Kann eine solch zielgerichtete, gemeinsame Aktion einen anderen Eindruck bei Politikern und Hochschulen hinterlassen als zahlreiche, aber lokale Proteste?

Dr. Bieber: Die KMK in Bonn steht auch wegen des „günstigen“ Termins auf halbem Weg bis Weihnachten im Fokus der Proteste – in einer Phase, in der es zunehmend schwieriger wird, die Proteste aufrecht zu erhalten, kommt ein solcher Leuchtturm-Event gerade rechtzeitig. Insofern haben die Aktionen auch schon vor ihrer Durchführung am Donnerstag eine Wirkung gehabt, nämlich als zusätzlicher Motivationsschub.

Wie kann ein solch günstiges „Leuchtturm-Event“ denn in der Praxis aussehen und vor allem: Wie kann es sich auch online manifestieren?

Dr. Bieber: Spannend könnte nun sein, inwiefern die Aktionen in Bonn für eine „Leistungsschau“ der studentischen Protestkultur genutzt werden. Durch die massive Darstellung und Vernetzung der Proteste im Netz gibt es viele „best practices“, die man nun nocheinmal auf einer großen Bühne präsentieren kann. Das gilt nicht nur für Aktionen vor Ort wie etwa die „Bolognaleichen“-Flashmobs, sondern auch für die mediale Begleitung mit Livestreams, Twitpics oder via Weblogs und schließlich die Archivierung des Materials etwa mit Web-Dokumentationen und Video-Reportagen.

Noch einmal zurück nach Gießen. In den letzten drei Wochen wurde in den besetzten Seminarräumen an einem Forderungskatalog gearbeitet, der nun als „Gießener Erklärung“ beschlossen und übergeben wurde. Der designierte Präsident kündigte heute in einem Rundschreiben an, man wolle eine „Monitoring-Gruppe“ aus Studierenden und Mitarbeitern einrichten. Glauben Sie, dass die Studierenden weiter Druck ausüben können, um die Durchsetzung sicher zu stellen?

Dr. Bieber: In der Tat, mit der Erfahrung des mehrwöchigen Protests und der „Gießener Erklärung“ im Rücken gehen die Studierenden gestärkt und auch zusätzlich „legitimiert“ in die nun anstehende Gremienarbeit. Man darf dabei allerdings nicht vergessen, dass die Studierenden auch bislang schon in solchen Gremien vertreten waren, jedoch nicht immer sämtliche Möglichkeiten zur Mitwirkung ausgeschöpft worden sind. Ganz sicher ist nun jedoch auf Seiten der Lehrenden eine höhere Sensibilität für die Belange der Studierenden gegeben – die vielen Solidaritätsbekundungen kamen ja nicht von ungefähr, denn auch aus der Sicht der Hochschulpersonals bietet der Bologna-Prozess in seiner aktuellen Ausprägung reichlich Anlass zur Kritik.

Dr. Christoph Bieber ist wissenschaftlicher Assistent an der JLU Gießen und beschäftigt sich mit den Auswirkungen der Neuen Medien auf politische und gesellschaftliche Prozesse. Zu seinen Veröffentlichungen zählen unter anderem Publikationen zum Thema Online-Wahlkampf, die Zukunft der Mediendemokratie und Interaktivität. Dr. Bieber betreibt das Blog Internet und Politik.

Bilder: Screenshots KMK nachsitzen und YouTube Giessenstreikt

Angst vor dem Minarett

Was mit der Abstimmung in der  Schweiz losgetreten  wurde ist eine Diskussion, die nicht jedem schmeckt, die aber offenbar umso nötiger geführt werden muss. In den vergangenen Tagen habe ich ganz persönlich mit meinen Familienmitgliedern so ausführlich und erhitzt über ein Thema diskutiert, das sie schon lange beschäftigt und das ich aus eigener Überzeugung als zu wenig relevant angesehen habe.

Beim abendlichen Anschauen von Frank Plasbergs Diskussion über das Minarett-Verbot in der Schweiz war erstaunliches zu beobachten. Es war erneut der trotzige Wolfgang Bosbach, der die Ängste in der Gesellschaft am deutlichsten symbolisieren konnte. Bosbach ist ja beileibe kein unerfahrener Politiker, der auch schon zahlreiche positive Begegnungen mit Moslems hatte und auch von diesen berichtet. Doch die Angst und Verunsicherung, die schon fast aus seinen Augen hervorleuchtete, war nicht zu übersehen. Worum aber geht es dieser großen Mehrheit in unserer, aber auch der Schweizer Gesellschaft?

Minarette sind nicht das Problem

Es kann nur schwerlich der Bau von Minaretten an sich sein. Unabhängig von der Frage, ob es etwas in der Verfassung eines Landes zu regeln gilt, das eigentlich mehr die städtischen Bauordnungen betrifft, muss es doch um weit mehr gehen. Die Schweizer haben mit ihrem Protestwahlgang mehr eine Meinungsäußerung abgegeben, als das tatsächlich ein praktikables Gesetz hervor gegangen wäre. Man muss sich nur verdeutlichen, dass nach der nun beschlossenen Regelung die repräsentativste, schönste und größte Moschee gebaut werden darf – nur auf einen Turm an ihrer Seite muss sie verzichten.

In Deutschland ist der Bau von Minaretten weit weniger umstritten, als die kurzfristigen Befragungen der sensationsgierigen Fernsehprogramme das vermuten lassen. Kaum jemand wir das oben beschriebene Szenario eines repräsentativen Moscheebaus gut heißen, solange auf das Minarett verzichtet wird. Eine wahrscheinlichere Stufe wäre da schon gleich der ganze Moscheebau an sich. Ein Blick ins Detail zeigt aber, wie aberwitzig auch diese Vorstellung anmuten muss. Denn es ist beileibe nicht so, dass es keine Moscheen in Deutschland gäbe. Sie sind vielmehr nicht als solche sichtbar. Problematisch wird hier nur die Manifestation in Form von orientalisch anmutender Architektur. Ein Lagerhaus in deutschem Einheitsweiß getüncht darf so viel Gebetsteppiche beherbergen, wie man sich das nur vorstellen kann.

Verdrängte Säkularisierung

Doch ich bin der Meinung, dass selbst eine solche Skepsis vor Moscheebauten nur ein Symptom ist und nicht die eigentliche Malaise. Michel Friedmann sprach gestern bei Plasberg von der Angst einer säkularisierten Gesellschaft vor dem Sakralen. Weil immer weniger Deutsche in eine Kirche oder Religionsgemeinschaft gehen, müssten die sehr diszipliniert wirkenden Moslems bedrohlich wirken. Doch diese Analyse trifft nicht annähernd das Problem. Vielmehr scheint die deutsche Gesellschaft nicht begriffen zu haben, dass und wie stark sie mittlerweile säkularisiert ist. Man begreift sich immer noch als christlich und kann nur so überhaupt einen Dualismus der Religionen, eine Konfrontation von Christentum und Islam in Deutschland annehmen.

Würde man dagegen begreifen, welch geringe Rolle die Religion im Alltagsleben der meisten Menschen spielt; würde man sich verdeutlichen, wie viele Atheisten und Agnostiker es in unserem Land gibt: Man wäre dennoch nicht am Kern des Problems angekommen. Was aber kann der Kern noch sein?

Teil einer Kultur

Der viel berufene Unterschied der Kulturen jedenfalls wohl kaum. Die deutsche Jugend zeigt das eindrücklich. Wer weiß schon noch, welche Musik aus welchem Kulturraum kommt. Selbst in unserer provinziellen, kleinstädtischen Gegen sieht man auf den Jugendseiten der Tagesschau die Lieblingsmusik der Jugendlichen und Teenager, die auf Bushido ebenso abfahren wie auf Fler. Die beiden Rapper setzen bewusst auf die gleiche Musik. Doch während Bushido eigentlich Moslem ist, betont Fler sein Deutschsein. Daran stören wird sich niemand. Fakt ist doch, dass jeder in Deutschland lebende Bürger, egal welcher Staatsangehörigkeit, zwangsläufig Teil einer gemeinsam entstehenden und sich immer wieder wandelnden Kultur ist.

In den Gesprächen mit meinen Eltern und Großeltern kommt man irgendwann zu dem immer gleichen Punkt, den ich für den entscheidenden halte. Das Bild von Moslems ist bei ihnen nicht durch persönliche Erfahrungen geprägt, sie kennen höchstens den türkischen Reifenhändler am Ortseingang. Mit einem Moslem, der seinen Glauben auslebt, sind sie noch nie in Kontakt geschweige denn in eine Diskussion gekommen. Nein, ihr Bild ist geprägt von einer medialen Berichterstattung, die von Ehrenmorden und Genitalverstümmelung, von Zwangsverheiratungen und Kopftuchstreitigkeiten an Schulen bestimmt ist.

Angst ums Recht

Seltsam genug, dass es nicht kulturelle, religiöse oder persönliche Vorbehalte sind, sondern rechtliche. Denn ausgerechnet unser Rechtssystem ist das mit den geringsten Anpassungsschwierigkeiten. Nahezu alle Bereiche, die mit einem fundamental ausgelebten Islam Probleme aufwerfen könnten, sind zweifelsfrei geregelt. Verfassungsfeindliche Tendenzen werden beobachtet und geahndet. Ehrenmorde und Frauenbeschneidung sind kein juristisches Streitthema, sondern klar bestimmt. Und Fragen nach Kopftüchern und Schwimmunterrichtsbefreiung sind auf dem Weg dahin.

Was uns also fehlt, ist eine bewusste Zurückstellung der rechtlichen Diskrepanzen und eine Betonung des gemeinsamen Lebens. Wir sind uns näher, als wir denken und es wird Zeit, dass wir einander begegnen.

Bild: flickr Grauer Mausling

Nachindustrielle Politik

Der Tagungsband ‚Soziale Netze in der digitalen Welt – das Internet zwischen egalitärer Teilhabe und ökonomischer Macht‘ wirft in zwei Aufsätzen eine interessante Debatte über Bürgerbeteiligung und Entscheidungsfindung im politischen System auf. Eine Kurzrezension.

Es ist schon verblüffend, wie sehr unser politisches System einem industriellen Bild von Produktion und Konsum entspricht. Massenprodukte von großen Firmen und Nischenprodukte kleinerer Anbieter werden konzipiert und produziert in abgeschlossenen Führungsetagen, verteilt durch den journalistischen Vertrieb und konsumiert durch eine große Anzahl von Menschen.

Axel Bruns bringt diese Analogie auf eine neue Ebene, indem er die nachindustrielle Produktion im Social Web, für die er den treffenden Begriff „Produsage“ (Produtzung, die deutsche Übersetzung leidet etwas an der Phonetik) eingeführt hat, auf die Politik überträgt. Demnach könne auch Politik gemeinschaftlich erstellt und genutzt werden, sich vom Gedanken der Trennung von Konsum und Produktion verabschieden. Als Bedingungen nennt er dafür: Transparenz, spontane Meritokratie, Bekenntnis zum unfertigen Prozess und kollektiver Nutzen.

Uwe Jun hält mit einer Reihe von Argumenten gegen Bruns‘ Modell von politischer Herrschaft durch Beteiligung der Nutzer/Bürger. Der triftigste scheint für ihn aber die politische Entscheidungsfindung an sich zu sein, die nur durch die Bündelung in Parteien zu realisieren sei. Die Funktionen von Parteien, also Regierungsbildung, Personalrekrutierung und vor allem Meinungsaggregation sieht er nicht in einer produtzten Politik.

Wie aktuell der Band auch sein mag, es fehlt das offensichtlichste Untersuchungsobjekt für Politik mit nachindustriellem Charakter: Der diesjährige Aufstieg der Piratenpartei bietet sich zur Analyse geradezu an. Eine Partei, von ihrem Erfolg fast überwältigt, die auf der Suche nach einer Strukturierung ihrer Arbeit ist, die Schlagkräftigkeit aus Wikis und Blogs generieren kann. Die Debatte Bruns/Jun würde hier auf eine neue Ebene gehoben, wenn nicht gleich ein ganzes politisches System der Mehrparteiendemokratie auf dem Prüfstand stände, sondern eine Anpassung desselben. Kann nicht eine Partei durch „Produsage“ funktionieren?

sozialenetzeChristoph Bieber, Martin Eifert, Thomas Groß, Jörn Lamla (Hg.)
Soziale Netze in der digitalen Welt
Das Internet zwischen egalitärer Teilhabe und ökonomischer Macht

Erscheinungstermin: 09.11.2009
EAN 9783593390130
329 Seiten, € 32,90

»Web 2.0« ist eine Chiffre für soziale Netzwerke im Internet. Es ermöglicht neue Formen der Interaktion im virtuellen Raum, wobei potentiell jeder zum Sender von Inhalten werden kann. Blogs, Wikis oder Videoplattformen suggerieren somit eine egalitäre Teilhabe am Medium des Internets. Die Autoren stellen dar, inwiefern diese neuen Formen der Generierung und Verbreitung von Inhalten immer auch in soziale, ökonomische und juristische Kontrollstrukturen eingebunden sind.

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