Vor dem Duell

Die ersten TV-Duelle zwischen Edmund Stoiber und Gerhard Schröder zogen 2002 bereits jeweils um die 15 Millionen Zuschauer an. Drei Jaher später war es wieder Gerhard Schröder, der sich nun mit Angela Merkel messen musste. 21 Millionen Zuschauer bedeuteten damals einen Marktanteil von fast 60 Prozent. Auch in diesem Wahljahr wird es ein TV-Duell geben; wieder wird es auf Wunsch von Angela Merkel nur zu einer Auflage kommen. Am kommenden Sonntag, dem 13. September, werden sich Merkel und Frank-Walter Steinmeier 90 Minuten direkt gegenüber stehen und den Fragen von gleich vier Moderatoren stellen. Eine kleine Auswahl von interessanten Perspektiven vor dem Duell.

tvduell

Thorsten Faas analysiert im „Wahlen nach Zahlen“-Blog auf Zeit Online, wie die Zuschauer TV-Duelle wahrnehmen. Am Beispiel des Duells Stoiber-Schröder zeigt er auf, wie fein das Gespür der Zuschauer für die Aussagen der Politiker wirklich ist.

Doch auch die Echtzeitmessungen des zweiten Duells zeigen Chancen und Gefahren solcher Ereignisse – Duelle sind “High Risk Television”. Gerhard Schröder konnte in der ersten Hälfte der Debatte, die folgende Grafik zeigt es, mit seiner Absage an eine Zusammenarbeit mit der PDS punkten, vor allem aber, wie schon im ersten Duell, mit seiner Ablehnung des Irak-Kriegs. Dass TV-Debatten tatsächlich “Miniatur-Wahlkämpfe” sind, zeigt sich auch darin, denn dieses Thema dominierte den Wahlkampf 2002 bekanntlich insgesamt.

Für Faas ist ganz klar, dass nur die kleinste Unachtsamkeit eines Kandidaten zu einem spannenden Abend führen könnte. „Dem bisherigen Grundtenor, der die Erwartungen im Vorfeld der Debatte prägt, nämlich dass es eher langweilig werden wird, ist daher nur bedingt zuzustimmen. Ein kleiner Moment der Unachtsamkeit genügt und es ist mehr Spannung da, als es einem der beiden Kontrahenten vielleicht lieb ist.“

Hinter den Kulissen von 2002

Michael Spreng kann als Berater von Edmund Stoiber einen sehr genauen Einblick in die TV-Duelle geben:

Mein Interesse war, die Duelle so formalisiert und regelementiert wie möglich durchzuführen, um dem situativ stärkeren Politiker, Gerhard Schröder, wenig Freiraum zu geben. Wir hatten uns dazu ausführlich mit den amerikanischen TV-Duellen beschäftigt und eine Mitarbeiterin von mir hatte in den USA mit den dort Verantwortlichen gesprochen. Das Ziel war, salopp gesagt, Stoiber ein stützendes Korsett zu verpassen, Schröder dagegen eine ihn einengende Zwangsjacke. Dies gelang in den Verhandlungen mit der SPD und den TV-Sendern auch – mit dem Ergebnis, dass Stoiber im ersten Duell als Sieger wahrgenommen wurde, weil er besser war, als von den Medien erwartet. Das zweite Duell verlor Stoiber, unter anderem auch deshalb, weil Schröder aus dem ersten Duell gelernt hatte und die Zwangsjacke sprengte.

Ebenfalls im „Wahlen nach Zahlen“-Blog weist Juergen Maier darauf hin, dass die Wahrnehmung der Debatten nicht immer direkt erfolgt. Die Berichterstattung über die TV-Duelle beeinflusst ganz klar die öffentliche Meinung dazu: „Damit kommt ein vierter Akteur ins Spiel, der neben den beiden Kandidaten und den Fernsehzuschauern über die Effekte von TV-Debatten entscheidet: die Massenmedien, die über Debatten breit berichten – und zwar höchst selektiv und stark wertend. Sie sind in der Lage, persönliche Beobachtungen zurechtzurücken; sie sind auch in der Lage, Einschätzungen, die vorher nicht existiert haben, zu generieren“

Drei Szenarien für das Duell

Andreas Grieß hat in einer interessanten Übersicht drei mögliche Szenarien für das TV-Duell ausgemacht:

1. Beide reden, sagen aber nichts. Merkel werde versuchen, sich nicht angreifbar zu machen und die möglichst neutralen Moderatoren und ein fahriger Steinemeier werden es nicht schaffen, sie „auf konkrete Aussagen festzunageln“. Ergebnis: Die Zeitungen würden titeln „TV-Duell ohne klaren Sieger“, jeder würde je nach parteipolitischer Brille den einen oder die andere vorne sehen – in der Wahlentscheidung spielte das Duell für kaum einen eine Rolle. Die Wahrscheinlichkeit gibt Grieß mit „traurigen 65%“ an.

2. Steinmeier zwingt Merkel in die Enge oder diese verhaspelt sich. Wenn Steinmeier es dagegen schaffe, die bisher inhaltlich zurückhaltende Kanzlerin zu konkreten Aussagen zu zwingen, könnte das ihr Image verändern. Ergebnis: Überschriften wie „Steinmeier bringt Merkel in Erklärungsnot“ würden genauso wie die Frage „Wahlausgang wieder offen?“ die Runde machen. An den Stammtischen könnte der Satz „Die konnte ja wirklich keine Antwort geben“ häufig fallen. Viele würden ihre Wahlentscheidung noch einmal überdenken. Die SPD und andere Parteien dürften gewinnen, die CDU könnte noch kräftig verlieren. Der Wahlkampf würde in den letzten zwei Wochen noch eine Wende nehmen, denn auf einmal wäre die CDU gezwungen offensiv mit Inhalten zu werben. Für Grieß ein unrealistischer Fall, er nennt 20% Wahrscheinlichkeit.

3. Merkel blamiert Steinmeier. Steinmeier müsse angreifen, dabei könne er sich auch verrennen. „Kritisiert oder attackiert er nur, kann er schnell unsympathisch oder verzweifelt wirken. Wenn Merkel dabei ruhig bleibt und die Übersicht behält, kann sie dann den Spieß sogar umdrehen und ihrerseits Steinmeier attackieren.“ Ergebnis: Es würde heißen, Steinmeier hätte sich die Zähne ausgebissen. Zwei Wochen vor der Wahl würde das TV-Duell schon als letztes Aufbäumen der SPD und Steinmeiers verstanden werden. Eine Kanzlerschaft Steinmeiers würde kaum noch einer für möglich halten, das Werben um Stimmen würde für die SPD damit fast unmöglich. Für den zweiten spektakulären Fall nennt Grieß eine Wahrscheinlichkeit von 15%.

Rhetorikanalyse von Merkel und Steinmeier

Als Ergänzung zu diesen Varianten kann man die Analyse von Ulrich Sollmann betrachten, der sich mit dem Auftreten, der Rhetorik von Merkel und Steinmeier befasst: „Die Wähler werden sich während des TV-Duells selbst ihr Bild davon machen, welcher Verhaltensstil sie eher ansprechen wird. Merkel kann dabei besser punkten, wenn sie bei Konfrontation mehr auf ihre eigene Kraft und Energie vertraut. Steinmeier kann stärker überzeugen, wenn er statt zu viel zu überlegen auch mal einen Überraschungsangriff wagt.“

Einen umfassenden Einstieg in die Geschichte der TV-Duelle bietet das ZDF – ergänzt durch fachkundige Analysen von Dr. Christoph Bieber. Er meint:

„Tendenziell mehr zu verlieren hat die Kanzlerin. Die Debatte ist in den letzten Tagen darauf hinaus gelaufen, dass sie sich dem Wahlkampf mehr oder weniger verweigert“, meint Christoph Bieber. Die öffentliche Nachfrage nach dem Duell sei aber inzwischen derart groß, dass eine Weigerung teilzunehmen „genau wie in den USA als Kneifen ausgelegt würde, das konnte sich auch Frau Merkel nicht erlauben. Das kann man als Bruch, als Wiedereintreten in die Wahlkampfsphäre interpretieren.“ Das TV-Duell wird nach seiner Einschätzung noch etwas länger das dominante Ereignis im Wahlkampf sein: „Man erhält einen kurzen, knappen Einstieg in das Wahlkampfgeschehen. Diejenigen, die sich umfassend in allen Medien informieren, werden nichts Neues erfahren, es sei denn, es kommt zu einem Patzer.“

Interessanterweise findet sich auf den Interneseiten der beteiligten TV-Sender ARD, ZDF, RTL und Sat.1 bisher kein prominent platzierter Hinweis auf das TV-Duell in 3 Tagen. Wenige Tage vorm Duell scheint es den Sendern nicht daran gelegen zu sein, groß auf dieses aufmerksam zu machen. Wir werden vor dem Duell noch genauer auf die medialen Begleiterscheinungen eingehen.

Bild: RTL

Nicht siegen, um zu gewinnen

Wohl nur kurzfristig hat die leichte Begeisterung über den vermutlich gar nicht so unrealistischen Deutschland-Plan von Frank-Walter Steinmeier die Nachrufe auf die SPD verstummen lassen. Die aktuellen Umfragezahlen aller Institute jedenfalls sehen noch keine Spur einer Trendwende der ach so gebeutelten Sozialdemokraten.

Bertrand Benoit von der Financial Times schreibt den richtigen Beitrag in diese Zeit – mit der einfachen Botschaft, dass für die SPD keinesfalls alle Felle davon geschwommen sind. Er beschreibt zwei Fehler, die man vor allem als Beobachter aus dem Ausland machen kann; doch auch die Inländer sind davor nicht gefeit.

„There are two mistakes one can make when watching the election. The first is to think of it as a Merkel-Steinmeier confrontation. If it were, there would indeed be no doubt as to the outcome.

This is a competition between parties, and since no single grouping is popular enough to muster an outright majority in the Bundestag it is a contest between groups of parties, potential ruling alliances.“

Der erste Fehler, so Benoit, sei es, von einem Duell zwischen Merkel und Steinmeier auszugehen. Auch von einem Schlagabtausch von CDU und SPD will er nichts wissen, sondern rückt ganz pragmatisch die späteren Regierungskoalitionen beziehungsweise die Optionen dafür ins Bild. Es stehen sich also nicht Merkel und Steinmeier, nicht CDU und SPD gegenüber, sondern eine christliberale Koalition kämpft mit knappem Vorsprung gegen alles, was sie verhindern könnte. Ehrlicherweise gesteht Benoit aber sogleich ein, dass es sich dabei im wahrscheinlichsten Falle um eine große Koalition handeln muss. Für ihn allerdings kein Grund, von einer Niederlage der SPD zu reden. Ganz im Gegenteil:

„The second would be to define victory in similar terms for the CDU and SPD. As in 2005, Ms Merkel’s goal is for the CDU and the small Free Democratic party to obtain enough votes to form a coalition. Mr Steinmeier’s goal is to prevent this.

This matters because whether a re-elected Ms Merkel leads a centre-right alliance or another grand coalition would make a huge difference in areas ranging from tax policy to nuclear energy. Indeed, as grand-coalition chancellor over the past four years she implemented more measures from the SPD’s 2005 manifesto than from her own campaign pledges.“

Für Benoit ist es das logischste Wahlziel der SPD, eine erneute große Koalition anzustreben. Damit habe man die Möglichkeit, weiter an der Zukunft des Landes mitzuarbeiten. Man solle dabei nicht davon ausgehen, dass der Unterschied zwischen Schwarz-Gelb und Schwarz-Rot klein sei. Es gebe große Unterschiede in den verschiedensten Politikfeldern von Steuerpolitik bis zum Atomausstieg.

Über diesen anderen Blickwinkel auf die Wahl hinaus weist Benoit auf einige Erkenntnisse der Wahlforscher hin, die auch Jörg Schönenborn vom ARD Deutschland-Trend erwähnt. Da ist die Rede vom weitgehend ausgeschöpften Wählerpotenzial der CDU und FDP auf der einen Seite und den großen Reserven der mit der SPD sympathisierenden Nichtwählern. Benoit und Schönenborn ziehen auch beide den Vergleich zur vergangenen Wahl und den großen Kampagnenerfahrungen der SPD.

Wie auch immer der Wahlkampf in den nächsten Wochen verlaufen wird. Steinmeier muss bei der Bundestagswahl im September nicht siegen, um zu gewinnen.

Foto: flickr Stephanie Booth

Visionen und er

Frank-Walter Steinmeier hat es wirklich nicht leicht in diesem Wahlkampf. Ein unmögliches Duell soll er gegen Angela Merkel austragen, die sich allen Konfrontationen schlicht entzieht. Warum sollte sie auch kämpfen mit einem vollkommen unterschätzten Kanzlerkandidaten einer Sozialdemokratie im Umfragetief? Sie könnte nur verlieren, was sie nach aktuellem Stand im September erneut ins Kanzleramt tragen wird.

Seine eigenen Parteimitglieder machen es dem unglücklichen Frank auch nicht leichter als seine konservative Konkurrentin. Ulla Schmidt beweist in einer eigentlich vollkommen korrekt gehandhabten Situation einen selten ungeschickten Umgang mit der Presse und den Wählern und macht die SPD zur Antiheldin des Sommerlochs. Und dann scheitert auch noch die Vorstellung des Kompetenzteams an der Tatsache, dass die Parteiführung bei der Vergabe von Posten mehr auf die Bedienung von Ansprüchen der Flügel achtete als auf wirkliche Kompetenz.

4 Millionen Jobs

Diesen schwierigen Wahlkampfauftakt soll jetzt der Deutschland-Plan [PDF] beflügeln, den man wohl eher nicht unter seinem richtigen Namen oder dem Slogan „Politik für das nächste Jahrzehnt“ kennen wird, sondern unter der plakativen Zahl von 4 Millionen Jobs. In Worten vier Millionen neue Arbeitsplätze sollen bis 2020 entstehen und so für Vollbeschäftigung im Land sorgen. Man könnte jetzt seitenweise über die verschiedensten Kritiken schreiben, über die scheinheilige Kritik des neuen Volkstribunen Guttenberg, über Plagiatsvorwürfe oder den allzu langen Zeitraum der Prognose.

Stattdessen muss man Steinmeier einfach einmal loben. In einem Wahlkampf, der bisher vollkommen an den Interessen der Bürger vorbei ging, ist es nicht zuletzt das Thema Arbeit und Arbeitslosigkeit, das viele Menschen umtreibt. Von einer Wirtschaftskrise bedroht, deren Auswirkungen möglicherweise erst langsam und schleichend das Leben der Deutschen beeinflussen werden, ist Hochkonjunktur für Zukunftsängste. Ein solches Versprechen der Vollbeschäftigung ist eben nicht schlichte Bauernfängerei wie die christsoziale und liberale Forderung nach Steuersenkungen, sondern eine Vorstellung davon, wie die Zukunft in diesem Land aussehen könnte.

Wahlkampf ohne Zukunft

Nun hat Helmut Schmidt bereits in den 80er Jahren seine Meinung über solche Ideen deutlich zum Ausdruck gebracht und gefordert, wer Visionen habe, solle zum Arzt gehen. Doch es sind gerade die Visionen und Zukunftskonzepte, die dem diesjährigen Wahlkampf ebenso fehlen wie scheinbar der gesamten aktuellen deutschen Politik.

„Wo bleibt der leidenschaftliche Streit um die Kontrolle der Banken, die ihre Casinos wieder eröffnet haben und den ultimativen K.O.-Schlag gegen die Weltwirtschaft vorbereiten? Warum wird, bis auf die Linkspartei, der deutschen Afghanistan-Einsatz im Wahlkampf tabuisiert? Warum wird eigentlich das zentrale Thema ausgeklammert, wie Deutschland jemals wieder von seinem gigantischen Schuldenberg herunterkommen will? Deutschland steht in der nächsten Legislaturperiode vor eine der härtesten Sparphasen der letzten Jahrzehnte und keiner redet darüber. Wann kommen Steuererhöhungen? Wird der Sozialstaat überleben können? Ist der Generationenvertrag nicht schon längst zerbrochen? Wer zahlt am Ende wirklich die Zeche?“

So schreibt Michael Spreng – und man könnte diese Liste erweitern, über Bildung und Kinderfreundlichkeit debattieren. Politik muss wieder über die Zukunft sprechen, muss die Visionen haben, die Helmut Schmidt für krankheitsbedingt hielt. Björn Böhning nannte die Vorschläge „ambitioniert“ und beschreibt damit genau, was Politik auch sein sollte. Es gehört mehr dazu, als der Deutschland-Plan sein kann, aber er ist wenigstens ein Anfang von Optimismus in einem bisher gelähmten Wahlkampf.

Bild: flickr nrwspd_foto

Wer hat Angst vorm schwarzen Baron?

Und schon ist es passiert, Karl-Theodor von und zu Guttenberg ist zweitbeliebtester Politiker Deutschlands und reiht sich damit direkt hinter jedermanns Liebling Merkel ein. Ein harter Schlag für Frank-Walter Steinmeier, der diesen Aufstieg Guttenbergs mit einem erneuten Verlust in der Gunst der Bürger erst ermöglichte.

deutschlandtrendEs ist eine absurde Situation, dass CDU und CSU gleich zwei Politiker in ihren Reihen haben, mit deren Arbeit die Bevölkerung zufriedener ist als mit der des SPD-Spitzenkandidaten Steinmeier. Immerhin ist Steinmeier nicht nur Wahlkämpfer, sondern auch Außenminister in der Regierung Merkel. Das Amt gehört traditionell sicher nicht zu den am meisten kritisierten im Kabinett, bleibt aber auch gerade bei erfolgreicher Arbeit oft im Hintergrund. Nicht zuletzt trifft das auf Steinmeier zu, weil sich Angela Merkel geschickt als G8- und Europakanzlerin zu inszenieren versteht. Da bleibt für den Sozialdemokraten eigentlich nur noch das Händeschütteln und Geiselkrisen bewältigen.

Harald Schoen spricht von einem Desinteresse der Bevölkerung für außenpolitische Themen, wenn diese nicht emotional präsentiert werden:„Viele Bürger schenken der Außenpolitik häufig keine allzu große Aufmerksamkeit. […] Innenpolitische Themen liegen für viele Bürger wesentlich näher. Daher gelten außenpolitische Fragen für die innenpolitische Meinungsbildung im allgemeinen und für Wahlverhalten im besonderen als nicht allzu bedeutsam.“ Zuletzt sei dies bei Gerhard Schröder anders gewesen: „Schröder gelang es offenbar, den Bürgern die Wichtigkeit des Irak-Themas vor Augen zu führen und sie dabei auch emotional anzusprechen.“ Emotionalität ist nicht gerade Steinmeiers Stärke.

Ganz anders kommt da der smarte Baron bei den Wählern an und verkauft sogar das vorsichtige Mahnen für eine Insolvenz wundersam publikumstauglich. Als scheinbar letzter Verfechter marktwirtschaftlicher Prinzipien führt er die SPD und ihre unglaubwürdigen Heilsversprechen für jedes angeschlagene Unternehmen an der langen Leine durch die Manege.

Unbestreitbar ist Guttenberg ein politisches Talent, wie es Deutschland schon seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen hat. Er hat das ihm zur Verfügung stehende halbe Jahr als Wirtschaftsminister für einen rasanten Aufstieg genutzt. Die meisten fachlichen Entscheidungen waren, so kurz vor der Bundestagswahl, schon getroffen und die Krisen von Opel und Arcandor boten Gelegenheiten, die ihm kaum günstiger zufallen konnten. Vor nicht mal einem halben Jahr war er noch Generalsekretär der CSU, weitere 4 Monate zuvor nur einfacher Bundestagsabgeordneter aus Franken. Und jetzt? Heute sprechen ihm bereits die ersten Gönner die Möglichkeit zu, eines Tages deutscher Bundeskanzler zu werden – die WELT sieht in ihm glatt einen kleinen Obama.

Dabei steht Guttenberg nicht wie Obama für einen inhaltlichen Wechsel, für eine Idee und deren Verwirklichung mit aller Kraft. Guttenberg repräsentiert vielmehr einen Charakterzug der CSU, den manche wohl als Wetterwendigkeit bezeichnen würden, andere als Flexibilität oder Anpassungsfähigkeit. Es kann niemanden verwundern, dass es der junge Baron war, der jüngst den Apologeten für eine schwarz-grüne Annäherung auch auf Bundesebene spielte.

Auf sonderbare Art und Weise wirkt der bayrische Baron dabei ein bisschen wie Gerhard Schröder, der als pragmatischer Politiker und gekonnter Dompteur der Medienlandschaft ebenfalls nicht für große Hoffnungen stand.

Es ist nur ein halber Obama, den unser Wirtschaftsminister darstellen kann. Ein Obama, von dem man Idealismus und Visionen einfach abzieht, der aber mit dem verbleibenden Charisma und seiner Überzeugungskraft immer noch alle überragt.

Aber wäre es nicht gerade die andere Seite Obamas, die Deutschland jetzt bräuchte?

Bilder: flickr Michael Panse MdL, ARD Deutschlandtrend

Erschreckendes Twitter-Debüt

Kajo Wasserhövel ist Bundesgeschäftsführer und oberster Wahlkämpfer der krisengeschüttelten SPD und als solcher auch für den Internetwahlkampf zuständig. Die zuletzt neu gestaltete Präsenz der Sozialdemokratischen Partei im Netz hat positive Erwartungen geweckt. Um so schockierender, wie Wasserhövel heute in die Twitter-Welt eintrat.

kajogrossDabei ist zuerst der Zeitpunkt verwunderlich. In Wahlkampf-Maßstäben ist es nur noch eine Hand voll Zeit bis zur Bundestagswahl, als Kajo Wasserhövel heute seinen Account bei Twitter eröffnet. Als Leiter des Wahlkampfs sollte Wasserhövel die vielleicht am schnellsten an Bedeutung gewinnenden Plattform im Web eigentlich schon länger kennen. Dass er Twitter tatsächlich nicht kennt, zeigt sein erster Tweet:

schaue mir Twitter an und versuche es richtig zu verstehe :-)

Immerhin positiv anzumerken ist ja, dass er sich gar nicht einbildet, Twitter schon wirklich zu verstehen, wie viele andere es tun. Dennoch sollte er in seiner Position gar nicht genötigt sein, ehrlich seinen Informationsmangel zugeben zu müssen – er müsste Twitter schlicht aus dem Effeff kennen.

Ich bin mir nicht sicher, wie groß die Rolle von Twitter in einem Online-Wahlkampf der SPD auszusehen hat. Bestimmt wird Twitter nicht Hauptbestandteil der Kampagne. Eine lohnenende Ergänzung könnte es aber allemal darstellen, die kostenlose Reichweite wäre neben der obligatorischen Zweitverwertung durch die Medien erstrebenswert. Skizziert man nur mal eine mögliche Verwendung, zeigen sich schnell die Versäumnisse der SPD:

Frank-Walter Steinmeier wurde im Oktober zum Spitzenkandidaten der Sozialdemokraten gekürt, etwa ein Jahr vor der Bundestagswahl. Sein Amt als Außenminister gehört zu den interessantesten und aufregendsten Berufen, die es in Deutschland gibt. Warum also nicht während seiner Arbeit twittern? Dass Steinmeier ein iPhone hat, ist der Netzgemeinde schon bekannt, technische Hindernisse wären so leicht auszuräumen. Der SPD-Kandidat hätte also ein ganzes Jahr Zeit gehabt, um sich und seine Arbeit und seine Person in kurzen Nachrichten einer interessierten Lesergemeinde zu vermitteln. Und das quasi kostenlos, mit dem iPhone aus dem Flugzeug oder vom Rücksitz der Limousine twitternd.

Verschenkte Aufmerksamkeit, nicht zuletzt durch Unwissen über die Möglichkeiten und Chancen der Plattform.