Das Jahr in 140 Zeichen

Der Impuls kam – wie so oft – aus den USA: das Online-Magazin Politico.com bemerkte die Twitterisierung der Politik und kürte die 10 wichtigsten Tweets des Jahres.

Auch wenn Twitter im allgemeinen (und das politische Twittern im besonderen) hierzulande noch immer belächelt wird, so lässt sich eine solche Liste durchaus auch für Deutschland anlegen. Nach spontaner Nachfrage in gut twitternden Kreisen hier also eine kleine Liste der politischen Tweets des Jahres 2009.

(Achtung: es handelt sich hier „nur“ um eine chronologisch geführte Liste, kein wertendes Ranking!)

1. Zum Jahresauftakt zieht Thorsten Schäfer-Gümbel auf Twitter relativ alleine seine Bahnen, meldet sich zu allen Tages- und Nachtzeiten und kommentiert regelmäßig das Geschehen auf landes- wie bundespolitischer Ebene. Inzwischen scheint er auch perfekt für (auto)mobiles Twittern ausgerüstet zu sein.

Überhaupt scheint Hessen eine heimliche Twitter-Hochburg zu sein (siehe auch #9) – der neue Parlamentarische Staatssekretär im Wissenschaftsministerium, Helge Braun (Gießen), glänzt etwa mit diesem Hochqualitätstweet (Danke, @dr_meyer!).

2. Julia Klöckner und Ulrich Kelber verraten das Ergebnis der Bundespräsidentenwahl.

Der Tweet „Leute, Ihr könnt in Ruhe Fußball gucke. Wahlgang hat geklappt.“ von @JuliaKloeckner scheint inzwischen gelöscht. Eine „Vorsichtsmaßnahme“ mit Blick auf die Landtagswahl 2011 in Rheinland-Pfalz, bei der die „Twitter-Sünderin“ (BILD) gegen Kurt Beck antreten wird?)

3. @mitzeichner zählt 50.000 Unterschriften für die Petition gegen Internetsperren – nach nicht einmal 70 Stunden Laufzeit.

Die Dynamik der Kampagne wirkt sich im Jahresverlauf maßgeblich auf die Entwicklung der Piratenpartei aus – deren Mitgliederzuwachs beginnt schlagartig mit dem Ablauf der Petition und der Bundestagsabstimmung zum Zugangserschwerungsgesetz im Juni.

4. Der langjährige SPD-Abgeordnete Jörg Tauss erklärt seinen Parteiaustritt und wechselt zur Piratenpartei.

Mit dem spektakulären Wechsel generierte Tauss einen massiven Follower-Zuwachs und katapultierte sich an die Spitze der politischen Twitter-Charts in Deutschland.

5. Patrick Rudolf (alias @pr_radebeul) plaudert die hochgeheimen Exitpolls für die Landtagswahlen in Sachsen, Saarland und Thüringen aus.

Der Stadtverordnete aus Radebeul versetzt damit Meinungsforscher, Medien und den Bundeswahlleiter in helle Aufregung.

6. Die erste Sitzung des 16. Bundestages wird zur Twitterparty – Sören Bartol, Volker Beck und Halina Wawricek feiern mit (vgl. auch die schöne Zusammenstellung drüben bei Homo Politicus).

7. @muentefering tritt zurück (Franz Müntefering aber noch nicht).

Der zugehörige Bericht der Agentur Metronaut („Wir waren Franz Müntefering“) erklärt vieles über das Führen eines Fake-Accouts und beinahe noch mehr über die Twitter-Kompetenz deutscher Journalisten.

8. Im Spätherbst beginnen die Hörsäle zu twittern – in München, Berlin, Marburg und anderswo informieren Twitter-Accounts über die aktuellen Ereignisse im Hochschulstreik.

Die Hashtags #unibrennt und #unsereuni dominieren die Rankings und sorgen für eine Vernetzung und Verbreitung der Studierendenproteste.

9. Kristina Köhler twittert als Bundesministerin weiter (und gibt auch das Briefeschreiben nicht auf).

Auch ohne ihre überraschende Berufung ins Familienministerium wäre @kristinakoehler im Jahresrückblick aufgetaucht – sie nutzte im Rahmen ihrer Bundestagskampagne nicht nur Twitter, sondern auch andere soziale Netzwerke massiv. Und setzte sich in ihrem Wahlkreis immerhin gegen die bisherige Entwicklungshilfeministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul durch.

10. Der niedersächsische Landtagsabgeordnete Helge Limburg stellt auf seine Weise Öffentlichkeit her (das ist der persönliche „Politeiatweet“ des Jahres von @codeispoetry – danke sehr!).

Zugleich erhält damit die Debatte um die „Rechtmäßigkeit“ des Twittern aus Plenarsitzungen neuen Schwung – in Augsburg ist bereits ein Twitter-Verbot für Sitzungen des Stadtrates in Kraft.

Der kleine Jahresrückblick auf die 140-Zeichen-Ereignisse zeigt, dass das umstrittene Phänomen Twitter zumindest in der deutschen Politik angekommen ist – von anderen Gesellschaftsbereichen lässt sich das nur bedingt behaupten. Die bisweilen arrogant und hämisch geführte öffentliche Debatte über Sinn bzw. Unsinn des Kürzestformates wird sicherlich auch im nächsten Jahr geführt werden.

Die US-Kollegen von Politico.com gehen von einer „Domestizierung“ und „Verharmlosung“ der Twitter-Kommunikation durch politische Akteure aus.

Danach sieht es in Deutschland eher nicht aus.

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Dieser Artikel erschien zuerst bei Internet und Politik.

Dr. Christoph Bieber ist wissenschaftlicher Assistent an der JLU Gießen und beschäftigt sich mit den Auswirkungen der Neuen Medien auf politische und gesellschaftliche Prozesse. Zu seinen Veröffentlichungen zählen unter anderem Publikationen zum Thema Online-Wahlkampf, die Zukunft der Mediendemokratie und Interaktivität. Dr. Bieber betreibt das Blog Internet und Politik.

„Lasst es krachen!“

Alle Jahre wieder wenden sich sowohl der Bundespräsident als auch die Bundeskanzlerin mit einer Weihnachts- bzw. Neujahrsansprache an die Bevölkerung und kommentieren die allgemeine gesellschaftliche aber auch wirtschaftliche Lage Deutschlands. Bislang wurden diese Botschaften hauptsächlich via TV und Radio verbreitet. Doch in den letzten Jahren ist nun auch noch das Internet als Verbreitungsorgan hinzu gekommen. Immer wieder nehmen Interessierte die Videos auf und stellen sie beispielsweise bei YouTube ein. Trotzdem werden die Botschaften der Staatsoberen nach wie vor als Offlineproduktionen erstellt und verbreitet.

Doch die Möglichkeiten des Internets stoßen dafür immer mehr bei den Politikern auf Interesse, denen kein Sendeplatz auf ARD und ZDF eingeräumt wird. Ihnen wurde mit YouTube ein Instrument in die Hand gegeben, mit dem Sie selbstständig, ohne die Selektionsstufen der klassischen Medien, ihre Wähler ansprechen können.

Im folgenden haben wir eine kleine Auswahl der interessantesten und kuriosesten Weihnachts- und Neujahrsbotschaften von deutschen Politikern zusammengestellt.

http://www.youtube.com/watch?v=M0ZBSm_Dvj0

http://www.youtube.com/watch?v=g6QSbosIl34

Screenshot: http://www.youtube.com/watch?v=XhpHigLf6xU

Frohe Weihnachten!

Wir blicken 2009 auf ein spannendes und ereignisreiches Jahr zurück. Angefangen mit der Landtagswahl in Hessen, über die Europawahl bis zur Bundestagswahl haben wir auf homopoliticus.de alle diesjährigen Wahlkämpfe ausführlich betrachtet. Wir danken allen Leserinnen und Lesern für die Treue und freuen uns schon auf ein interessantes Politikjahr 2010.

Doch nun wünschen wir erst einmal allen ein frohes und besinnliches Weihnachtsfest und einen guten Rutsch ins neue Jahr!

Bildnachweis: flickr.com/AndyCunningham

Provinzposse um Behindertenrechte

Gewöhnlich ist dieses Blog nicht wirklich lokal, aber diese Geschichte ist einfach zu unterhaltsam, um nicht veröffentlich zu werden. Alles beginnt mit einem Zeitungsartikel vor etwa zwei Wochen. Dirk Wingender berichtet in der hiesigen „DILL-POST“ über eine Stadträtin, die auf dem Behindertenparkplatz des Rathaus parkte. Viel interessanter als der eigentliche Verstoß gegen die Straßenverkehrsordnung selbst aber ist die Reaktion der drei beteiligten Parteien. Vorhang auf für den ersten Akt:

zweiterdezember

Erster Akt: Konfrontation

Auf das Vergehen angesprochen, versucht sich Elisabeth Fuhrländer, Vorsitzende des CDU-Stadtverbands Dillenburg, zu rechtfertigen. Die Art und Weise ist so unglaublich, dass ich sie nur wörtlich zitieren kann:

„… hat sie sich mit ihrem Auto auf den Parkplatz gestellt. Mehrmals, wie sie gestern auf Anfrage dieser Zeitung eingeräumt hat. „Wenn die Garage des Rathauses voll war“, erklärt sie. Der Parkplatz sei doch eigentlich ein städtischer und gehöre sozusagen zum Rathaus, erklärt sich die Vize-Bürgermeisterin. […] „Das stört doch keinen Menschen. Dort hat noch nie ein Behinderter gestanden.“ […] Sie habe den Behindertenparkplatz nur dann benutzt, wenn sie „dringend im Rathaus etwas zu erledigen hatte.“ […] Sie bedauere, dass sie den Parkplatz genutzt habe, erklärte Elisabeth Fuhrländer in einem zweiten Telefonat mit unserer Redaktion. „Ich hätte nicht gedacht, dass es jemanden stört.“

Ich werde einmal versuchen, die verschiedenen Argumente der Frau Fuhrländer zu sortieren. Sie habe 1. nur dort geparkt, wenn die Garage voll gewesen sei, denn 2. sei der Parkplatz ja nur halböffentlich und 3. störe das doch niemanden. 4. habe dort noch nie ein Behinderter gestanden und 5. habe sie den Parkplatz nur in dringenden Fällen belegt. 6. bedauert sie vor allem den ihr entstandenen Ärger denn 7. hätte sie nicht gedacht, dass jemand daran Anstoß nehmen könnte. Damit endet nicht nur die Argumentationskette der stellvertretenden Bürgermeisterin, sondern auch der Artikel. Der Vorhang fällt, es folgt der zweite Akt:

dritterdezember

Zweiter Akt: Empörter Protest

Gemeinsam mit Redakteur Wingender bilanziert einen Tag später der Leiter der Lokalredaktion, Martin Heller, die Reaktionen auf den Ausrutscher der Stadträtin.

„“Was Frau Fuhrländer sagt, stimmt einfach nicht“, sagt auch eine weitere Leserin […]. Ihr Sohn sitzt ebenfalls im Rollstuhl. […] Ihre Erfahrung: Sowohl die Plätze am Rathaus als auch der Behindertenparkplatz in der unteren Marbachstraße nahe der ‚Erbse‘ seien regelmäßig von Autos besetzt, deren Fahrer keine Parkerlaubnis haben. „Ich habe den Eindruck, dass in Dillenburg eine Lobby für Behinderte fehlt.“

Sie berichtet von verschmutzten Behindertenparkplätzen, die voller Hundekot seien. Das bedeute für einen Rollstuhlfahrer, dass er den Schmutz an den Händen hat, sobald er an die Räder seines Rollis greife. Die Vorsitzende des Beirats für Senioren- und Behindertenfragen stellt klar: Es gebe nicht zu wenig Parkplätze für Behinderte, sie seien schlicht zu oft von Falschparkern besetzt. Falschparkern wie der Elisabeth Fuhrländer. Abtritt der Protestanten, Vorhang auf für den dritten Akt:

siebzehnterdezember

Dritter Akt: Die Verschwörungstheorie

Das alles scheint für die örtliche CDU zu viel des investigativen Lokaljournalismus zu sein, zu viel Beschwerde von betroffenen Bürgern. Der CDU-Ortsverband Frohnhausen, ein Ortsteil von Dillenburg, solidarisiert sich mit der Stadträtin. Die DILL-POST berichtet heute über einen Kommentar, den Patrick Schreier auf den Internetseiten des Stadtverbands Dillenburg veröffentlichte. Darin ist die Rede von einer „Hetzjagd“ und „Kampagne“ gegen Fuhrländer. Natürlich sei es nicht schön, wenn Behindertenparkplätze unzulässig belegt würden. Aber der Parkplatz am Rathaus sei ja fast überflüssig, nachdem es doch das Bürgerbüro im Süden der Stadt gebe. Und weiter:

„Diese Kampagne, ich kann es nicht anders nennen, ärgert mich persönlich sehr.Selbstverständlich hat Frau Fuhrländer eine Ordnungswidrigkeit begangen und selbstverständlich hat Sie dafür ein Bußgeld bekommen. […] Allerdings möchte ich hier öffentlich, und ich denke ich spreche da im Namen des gesamten CDU-Ortsverbandes Frohnhausen, meine uneingeschränkte Solidarität mit Frau Fuhrländer aussprechen. Wir brauchen sie, sind außerordentlich dankbar für ihr Engagement und wir stehen gerade in dieser schweren Zeit zu ihr.

Es mag natürlich sein, dass die Initiatoren dieser „Hetzjagd“ tatsächlich noch nie falsch geparkt haben, niemals „geblitzt“ wurden und auch garantiert immer angeschnallt sind. Für viel wahrscheinlicher halte ich es jedoch, dass hier die Nöte von behinderten Mitmenschen zu parteipolitischen Zwecken instrumentalisiert werden.

Und damit sind für mich die Grenzen des guten Geschmackes weit überschritten.“

Die DILL-POST hat uns freundlicherweise die drei Artikel zur Verfügung gestellt. Das Copyright für Texte und Bilder der entsprechenden Daten liegt bei der DILL-POST. Titelbild: Photocase ohneski, Montage

Ich bin Deutschland. Ich bin Muslim.

Seit 31 Jahren wird mir beim ersten Kennenlernen immer wieder die gleiche Frage gestellt. „Woher kommst du?“ Auch wenn es nicht so gemeint ist, impliziert diese Frage immer auch ein „Du bist keiner von uns“. Und ich habe die Frage immer mit: „Aus Syrien“ beantwortet, da wo meine beiden Eltern herkommen. Ich war halt Ausländer. So war sie halt meine Welt. Ich bin mit dem Stempel, den man mir aufgedrückt hat, klargekommen. 26 Jahre lang. Dann bin ich mit 26 Jahren das erste Mal in Syrien gewesen. Ich habe das Land und die Menschen dort schätzen und lieben gelernt. Die Syrer sind sehr kontaktfreudige Menschen. Innerhalb von 4 Wochen hatte ich 60 neue Nummern in meinem Handy. Aber obwohl mich die Menschen dort herzlich aufgenommen haben, habe ich für mich festgestellt: „Ich bin kein Syrer.“ Auch wenn dort ein Teil meiner Familie lebt, ist das nicht meine Heimat. Ich bin in Aachen geboren und großgeworden. Meine Heimat heißt Deutschland.

Seit dem ich das für mich erkannt habe, lautet meine Antwort auf die Frage: „Woher kommst du?“ immer „Aus Deutschland“. Verdutzte Gesichter sind zumeist die Reaktion: „Achso… ja aber ich meine… also deine Eltern“. „Die sind beide Deutsche“. „Ja, gut aber ich meine… also ursprünglich…“

Ich bin Deutscher. Aachen ist meine Heimatstadt und Deutschland ist meine Heimat. Ich bin seit 31 Jahren Teil dieser Gesellschaft. Ich fiebere in der WM mit der deutschen Nationalmannschaft mit. Wenn ich die Bilder der Deutschen Einheit sehe, kommen mir die Tränen. Ich wähle hier. Ich lebe hier. Ich arbeite hier. Und ich habe meine Mutter hier begraben.

Auch wenn meine Antwort „Aus Deutschland“ meist nicht erwartet wird, hat man scheinbar kein Problem damit.

Es ist aber nun des Schicksals Fügung, dass ich auch noch Muslim bin. Und meine Religion ist ein Teil von mir. Ein sehr intimer Teil sogar. Und ein Teil meiner Religion ist die Moschee. Und genauso wie ich zu Deutschland gehöre, gehört meine Moschee zu Deutschland. Inklusive Minarett.

In Syrien stehen Kirchen, die knapp 2000 Jahre alt sind. Inklusive Kirchturm. Sie gehören so zum Stadtbild, wie die Christen zu Syrien gehören. In Syrien gibt es sogar drei Dörfer (eines davon ist Maloula), die immer noch Aramäisch sprechen, die Sprache, die Jesus sprach.

Durch den Volksentscheid in der Schweiz und die dadurch losgetretenen Debatten in Deutschland spürt man es jedoch wieder… dieses Unterschwellige: „Du bist keiner von uns“.
„Du darfst deine Moschee ja bauen, aber das Minarett passt mir nicht. Es stört einfach. Ich möchte es nicht sehen.“ Das Minarett, was man aber verbieten will, ist ein Teil meiner Moschee, ein Teil meiner Religion und ein Teil meiner Identität. Wer meine Moschee aber nicht sehen will, der will auch mich nicht. Das ist die Botschaft, die bei mir ankommt. Die Aussage „Du darfst deine Moschee doch bauen, aber nur ohne Minarett“ ist gleichzusetzen mit der Aussage „Ich mag Ausländer, aber nur nicht ihre Hautfarbe“

Menschen, die aus welchem Grund auch immer, ein Land verlassen und in ein neues Zuhause ziehen, bringen das, was ihnen am wichtigsten ist, mit. Nach der Familie ist das ihre Religion. Das haben Menschen schon immer getan. Überall auf der Welt. Wer diese Mitbringsel nicht respektieren will, der respektiert den Menschen nicht. Und wer Menschen aufgrund ihrer Herkunft oder ihrer Religion nicht respektiert, der trägt rechtes Gedankengut in sich, auch wenn er sich das nicht selbst eingestehen will.

Tamim Swaid ist 31 Jahre alt und lebt  in Aachen. Er ist User Interface Designer und Gründer des Startups CoboCards.com. Für uns hat er seinen Kommentar bei CARTA auf Stephan Russ-Mohls „Medienhype um Minarette“ zu einem Gastbeitrag erweiter.

Bild: Minarett in Rendsburg, flickr by sahinakif